- Kontrollverlust, unwiderstehliches Verlangen nach mehr Alkohol
Es ist das Stadium erreicht, in dem bei dem Trinker ein unwiderstehliches
Verlangen nach mehr Alkohol entsteht, sobald eine kleine Menge Alkohol in seinen
Körper gelangt ist. Dieses Verlangen wird als zwingender Bedarf empfunden und
hält gewöhnlich an , bis der Trinker zu betrunken ist oder zu krank für eine
weitere Alkoholaufnahme ist. Dieser alkoholische Exzess, medizinisch
Alkoholabusus genannt, braucht nicht durch irgendein persönliches oder
psychisch bedingtes Bedürfnis eingeleitet zu werden, sondern kann aus einer
"harmlosen" gesellschaftlichen Gelegenheit entstehen. Dieser "Kontrollverlust"
bedeutet nicht, daß der Trinker immer trinken muß, er setzt vielmehr erst
während des Trinkens und durch das Trinken ein.
Der Trinker hat in der konkreten Situation noch immer die Entscheidungsfreiheit
darüber, ob er trinken will oder nicht. Das wird allein durch die
alkoholabstinenten Perioden bewiesen, die oft nach derartigen Exzessen
eingehalten werden.
In diesem Zusammenhang wird oft die Frage erhoben, warum der Trinker nach seinen
verhängnisvollen Erfahrungen anläßlich seiner wiederholten Exzesse dann immer
wieder anfängt zu trinken. Er ist in diesem Stadium bereits alkoholabhängig
geworden, wenn es ihm auch noch nicht bewußt ist. Sein Wille in Verbindung mit
Alkohol ist mindestens beeinträchtigt, er selbst jedoch glaubt, daß er seine
diesbezügliche Willenskraft nur vorübergehend verloren hat und sie daher
wiedererlangen kann und muß. Er ist sich jedoch nicht darüber im klaren, daß in
ihm ein Vorgang (Abhängigkeitserkrankung) abgelaufen ist, der es ihm unmöglich
macht, seinen Alkoholkonsum über längere Zeiträume hinweg einzuschränken oder
zu kontrollieren.
- Ausreden, warum man so trinke
Mit dem Einsetzen des Kontrollverlusts
beginnt der Alkoholiker sein Trinkverhalten zu erklären unds schafft sich durch
"Alkoholausreden" Alibis, d.h. Erklärungen, die ihn selbst davon überzeugen
sollen, daß er die Kontrolle über sein Trinken nicht verloren hat. Er redet sich
selbst ein, daß daß er "guten" Grund zum Sichbetrinken habe und daß er ohne
"diesen" Grund genauso mäßig oder überhaupt nicht wie die anderen trinken könne.
Hier setzt der große unbewußte Selbstbetrug des Alkoholikers ein und damit
verbunden der Betrug an seiner Umwelt.
- soziale Belastungen
Dieser Selbstbetrug ist nun beim Alkoholiker der Anfang eines ganzen
"Erklärungssystems", das sich immer mehr auf jede Ebene seines Lebens ausbreitet. Dieses
"System" dient nun auch als Wiederstand gegen die "sozialen Belastungen", die
zusammen mit dem "Kontrollverlust" entstehen. Seine Trinkart fällt unterdessen
auch der Umgebung auf. Angehörige, Freunde, Kollegen und Arbeitgeber beginnen,
den Alkoholiker zu tadeln oder zu warnen.
- großspuriges Auftreten, Imponiergehabe
Auf das Verhalten der Umwelt reagiert der Alkoholiker mit "übergroßer
Selbstsicherheit" nach außen, obwohl bei ihm ein deutlicher Verlust an
Selbstachtung einsetzt. Er versucht, diesen Verlust durc Extravaganz und
Großspurigkeit zu kompensieren, um sich selber davon zu überzeugen, daß
er noch nicht so schlecht dran ist, wie er manchmal gedacht habe.
- auffällig agressives Verhalten (die andern sind schuld)
Durch sein "Erklärsystem" isoliert sich der Alkoholiker in zunehmenden Maß von
seiner Umwelt, die in seinen Augen an allem schuld ist. Auf dieses angebliche
"Schuldsein" der Umwelt reagiert er dann mit auffällig agressivem Benehmen.
- innere Zerknirschung, dauerndes Schuldgefühl
Das auffällige Verhalten des Alkoholikers gegenüber seiner Umwelt reflektiert
auf ihn selbst und ruft nun auch in ihm Schuldgefühle hervor, die zur inneren
Zerknirschung führen. Diese Zerknirschung sucht er erneut mit Alkohl zu
überspielen, und so setzt ein Teufelskreis ein.
- Perioden völliger Abstinenz
Bisweilen gelingt es dem Alkoholiker diesen Teufelskreis zu durchbrechen, indem
er Peroden völliger Abstinenz durchläuft. Dabei folgt er dann auch dem
zunehmenden sozialen Druck.
- Änderung des Trinkverhaltens: kein Bier mehr, nur noch Gläser, nur
noch abends usw.
Die abstinenten Perioden führen jedoch wieder zum Rückfall, da er seinem
Grundübel, dem "Selbstbetrug", nicht begegnet und daher dem ständigen inneren
Druck nicht standhält. Aus diesem "Selbstbetrug" heraus ändert der Alkoholiker
jetzt sogar sein Trinksystem, indem er sich selber Regeln aufstellt, so z.B.
nicht vor einer bestimmten Tageszeit zu trinken oder nur an bestimmten Orten
oder nur diese Art (Wein statt Bier) und Menge Alkohol zu trinken usw.
- Fallenlassen von Freunden (Feindseligkeiten gegen die Umgebung)
Die Umwelt erkennt natürlich die Änderung der Verhaltensweise des Alkoholikers,
entlarvt ihn ob seiner "scheinbaren" Abstinenz und durchschaut die Änderung
seines "Trinksystems". Darauf reagiert der Alkoholiker mit Feindseligkeit und
läßt seine Freunde fallen.
- ständige Probleme am Arbeitsplatz, Kündigung
Die Arbeitsleistung sinkt, die Krankheitstage häufen sich.
Die Kollegen gehen auf Distanz. Der Trinker verliert den Arbeitsplatz oder
steht kurz davor oder er kündigt von sich aus, um einer Entlassung zuvorzukommen.
- Konzentrieren des Benehmens auf den Alkohol
Da sich der Alkoholiker immer mehr verlassen sieht, konzentriert er sich im
verstärkten Maß auf den Alkohol als "Medizin und Seelentröster".
- Verlust an Interessen
Der Alkoholiker denkt darüber nach, wie eine bestimmte Tätigkeit sein Trinken
stören könnte (statt umgekehrt) und lehnt alle Interessen ab, die ihn am
Trinken hindern können.
- Neuauslegung mitmenschlicher Beziehungen
Im Alkoholiker verstärkt sich zunehmend das Gefühl, daß die Umwelt an seinem
Fehlverhalten schld sei. Dieses Gefühl ruft in ihm eine immer stärkere
Anspruchshaltung hervor, aus der heraus er nur noch den Wert oder Unwert seiner
mitmenschlichen Beziehungen bemißt.
- auffallendes Selbstmitleid
Diese Auslegung seiner mitmenschlichen Beziehungen ist mit einem auffallenden
Selbstmitleid verbunden. Er kann doch nichts dafür, die andern wollen ihm doch
immer etwas am Zeuge flicken.
- gedankliche und tatsächliche Flucht
Sein "Erklärsystem", seine Isolation und sein "Selbstmitleid" haben jetzt
derartige Formen angenommen, daß der Alkoholiker versucht, sich den daraus
entstandenen Problemen durch gedankliche Flucht (sich selber etwas vorgaukeln
und gedanklich in eine bessere Atmosphäre versetzen) oder tatsächliche
(geographische) Flucht zu entziehen.
- Änderung im Familienleben
Unter dem Eindruck dieser Vorfälle tritt eine Änderung im Familienleben ein.
Nicht nur der Alkoholiker hat sich zunehmend isoliert, sondern auch seine
Familienangehörigen ziehen sich zunehmend zurück. Auch entwickeln sie eine
ausgiebige Betriebsamkeit, um dadurch der häuslichen Umgebung zu entkommen.
- grundloser Unwillen
Der Alkoholiker selbst lebt jetzt in einem anhaltenden Spannungszustand, der
oft bei ihm grundlosen Unwillen auslöst.
- Sichern von Alkoholvoräten
Das vorherrschende Interesse
an Alkohol veranlaßt den Alkoholiker, sich seinen Alkoholvorrat immer zu
sichern, wobei er auch dazu übergeht, ihn zu verstecken.
- Vernachlässigung angemessener Ernährung
Sowohl das Sichern des Alkoholvorrats als auch die ersten Auswirkungen auf
den Organismus durch das ständige Trinken (Appetitlosigkeit) bringen den
Alkoholiker dazu, seine Ernährung zu vernachlässigen bzw. sich völlig einseitig
zu ernähren (Kotelett, Frikadellen, Würstchen, Brühen usw. - Vitaminmangel).
- Gesundheitliche Verschlechterung, erste Einweisung in ein
Krankenhaus wegen alkoholbedingter Beschwerden
Die ersten organischen Schäden werden akut (Magenschleimhautentzündung,
Leberschäden, neurotische Störungen). Unter Umständen werden stationäre
Behandlungen erforderlich.
- Abnahme des Sexualtriebs
Während sich zu Beginn der Trinkerzeit eine erhöhte Potenz bemerkbar machte
und an die Ehefrau unzumutbare Forderungen gestellt wurden, zeigt sich jetzt
eine zunehmennde Impotenz des Alkoholikers.
- alkoholische Eifersucht
Aufgrund der eigenen zunehmenden Impotenz steigert sich beim Alkoholiker die
Feindschaft gegenüber seiner Ehefrau. Er unterstellt ihr außerehelichen
Geschlechtsverkehr und verfällt dadurch in die "alkoholische Eifersucht".
Reaktionen seiner Ehefrau auf sein Fehlverhaltenwerden von ihm grundsätzlich
mißvrstanden, ein anderer Mann wird dahinter vermutet.
- regelmäßiges morgendliches Trinken
In diesem Stadium haben Gewissensbisse, Unwillen, Kampf zwischen
Alkoholverlangen und Pflichten, Verlust der Selbstachtung und Selbstmitleid,
Zweifel und Selbsttäuschung den Alkoholiker so zerrüttet, daß er den Tag nicht
beginnen kann, ohne sich nach dem Aufstehen oder noch vorher mit Alkohol zu
beruhigen. Ja, er kann schon seine Arbeit ohne Alkohol nicht mehr ausführen.
Durch den bisherigen Prozeß des Alkoholismus ist die moralische und körperliche
Widerstandskraft des Alkoholikers schon völlig untergraben.
Während der kritischen Phase ist Trunkenheit die Regel, aber sie ist auf die
Abendstunden beschränkt. Mit dem Trinken wird irgendwann am Nachmittag begonnen
und gegen Abend ist der Rausch erreicht. Die kritische Phase präsentiert durchweg
den heftigen Kampf des Süchtigen gegen den völligen Verlust der sozialen Basis.
Gelegentlich verursachen die Nachwirkungen des abendlichen Rausches einen
geringen Zeitverlust, aber im allgemeinen kann der Süchtige seiner Arbeit
nachgehen, wenn er auch seine Familie vernachlässigt. Er strengt sich besonders
an, um einen Rausch während des Tages zu vermeiden.
Der geschilderte
Krankheitsprozeß in der kritischen Phase unterminiert fortschreitend den
moralischen und körperlichen Widerstand des Süchtigen.