Freiwilligenarbeit - unverzichtbar in der Hilfe für Suchtkranke

Warum das Thema?

Die Vereinten Nationen haben das Jahr 2001 zum "Jahr der Freiwilligen" ausgerufen. Alle reden davon und natürlich gibt es in diesem Zusammenhang auch eine Reihe von Sonntagsreden.

Lange habe ich überlegt, was mich eigentlich daran stört. Bis ich darauf kam, dass die Sucht-Selbsthilfe so gut wie überhaupt nicht vorkommt. Selbsthilfe kommt kaum vor, Sucht-Selbsthilfe noch weniger. Dabei wissen wir doch alle, dass ein großer Teil der Arbeit der Sucht-Selbsthilfe freiwillig, ehrenamtlich geschieht. Worüber reden wir in der Suchtkrankenhilfe also, wenn wir von bürgerschaftlichem Engagement sprechen, wenn wir über Freiwilligenarbeit sprechen? Was wird freiwillig getan? Was ist die Vorgeschichte?

Freiwilligkeit

Bei diesem Begriff haben wir heute Abend die Situationen suchtkranker Menschen vor Augen. Wir stellen fest, dass es mit dem "freien Willen" nicht mehr so weit her ist. "Sucht", so sagt es Professor Wanke in seiner Definition von 1987, "ist ein unabweisbares Verlangen nach einem bestimmten Erlebniszustand. Diesem Verlangen werden die Kräfte des Verstandes untergeordnet. Es beeinträchtigt die freie Entfaltung einer Persönlichkeit und zerstört die sozialen Bindungen und die sozialen Chancen eines Individuums".

Ist hier etwas freiwillig passiert? Wollte jemand abhängig, unfrei werden? Kommt man aus dieser Situation selbstständig und freiwillig wieder heraus? Oder ist es nicht häufiger so, dass Klienten "freiwillig gezwungen" hier aussteigen? Da ergeben sich sofort die nächsten Fragen: Wie ist es mit dem Leidensdruck? Wie ist es mit der Einordnung als Krankheit? Nicht nur diese, aber diese Fragen besonders werden heute unablässig diskutiert. Meine persönlich Meinung ist die, dass nach wie vor ein persönlicher Tiefpunkt Auslöser für den Wunsch nach Veränderung ist. Sehr eindrücklich ist dafür ein Beispiel, welches Prof. Lothar Schmidt immer wieder erzählte: Ein junger Mann berichtet in der Gruppe über den Auslöser, der ihn in die Selbsthilfegruppe führte. Es war die Frage seines fünfjährigen Jungen. Der wollte von ihm wissen, "wann er denn einmal so sei wie die anderen Väter?"

Und zur Krankheit: Sucht ist Krankheit. Ohne wenn und aber. Jedoch eine Krankheit, bei der die Mitwirkungsbereitschaft in der Therapie Voraussetzung für Heilung ist.

In der Selbsthilfegruppe

In der Definition von Professor Wanke wird es ganz deutlich: der freie Wille ist verschüttet. Kommt jemand in die Selbsthilfegruppe (oder in die Therapie), wird gemeinsam etwas von dem freigelegt, was vorher diesen Menschen ausgemacht hat, bevor ihn die "typenbildende Kraft der Krankheit" (Bürger-Prinz) formte. Soll der jetzt sofort freiwillig mitarbeiten? Ist das möglich? Wir alle wissen, dass Entwicklung nötig ist, um freiwillige Arbeit für andere zu tun. Bleibt also die Frage offen: Was haben Selbsthilfe und freiwillige Arbeit miteinander zu tun?

Lassen Sie mich mit einem Beispiel beginnen. Bevor der Gruppenabend beginnt, hat sich schon sehr viel ereignet. Da ist jemand gekommen und hat vom Küster oder dem Pastor den Schlüssel für den Gemeinderaum geholt. Jemand anders hat die Kaffeemaschine angestellt und noch jemand anders hat dafür gesorgt, dass Tassen, Zucker und Milch da sind. Andere haben die Tische an die Seite geräumt und einen Stuhlkreis gebildet, eine Frau hat Plätzchen in ihrem Korb mitgebracht und ein anderer hat vielleicht im Laufe der Woche ein Gedicht herausgesucht, mit dem der Gruppenabend begonnen werden kann. Ingrid Arenz-Greiving spricht in ihrem Buch "Selbsthilfegruppen leiten" vom "Anfang vor dem Anfang". Dabei wird ja nicht nur freiwillig etwas für andere getan, sondern dabei wird auch miteinander gesprochen. Dabei wird sich ausgetauscht und dabei passiert bereits etwas.

Haben wir das im Bewusstsein, wenn dann der Gruppenabend "richtig" anfängt? Wird die Arbeit, die regelmäßig freiwillig geleistet wird, Wert geschätzt? Oder sind wir hier nicht auch in der Sucht-Selbsthilfe zu hochschwellig? Fängt freiwillige Arbeit in unseren Köpfen erst dann an, wenn ein Gruppenabend moderiert (ich spreche ungern von leiten) wird? Wenn man zum Helfer bestimmt ist? Wenn man die Gruppe im Landesverband oder in der Ortsgruppe vertritt? Oder ins Krankenhaus oder in die Fachklinik zur Infogruppe fährt?

Der Gruppenabend

Wenn ein Gruppenabend gut läuft, dann beginnt er mit einem Dankeschön für das, was bis jetzt passiert ist. Dann kommt vielleicht ein Blitzlicht. Jeder sagt, wie er sich fühlt, was er heute in die Gruppe mitgebracht hat. Die beiden zentralen Fragen dabei sind:

Dabei, und darüber sollten wir uns immer wieder klar sein, geht es um Beispiele. Es geht nicht um Ratschläge. Es hilft nichts, wenn jemand gesagt bekommt "wenn du nächste Woche deinen Geburtstag feierst, solltest du ihn alkoholfrei feiern". Sondern was hilft, ist die Schilderung von jemandem der z. B. sagt: "Ich war auch unsicher, als ich meinen ersten Geburtstag ohne Alkohol feiern wollte. Was würde meine Verwandtschaft denken, wenn es bei uns keinen Alkohol gibt? Was ich erlebt habe, war überwältigend. Niemand hat bei uns im Hause den Alkohol vermisst. Es war eine schöne Feier, von der ich heute noch jede Einzelheit weiß".

Vor dem Hintergrund unterschiedlicher Beispiele werden eigene Entscheidungen getroffen. Beispiele sind die Basis, um aus sich selbst heraus eine Situation neu zu definieren und vor allen Dingen diese zu bestehen. Nicht weil mir jemand geraten hat, es so zu machen, sondern weil ich mich entschieden habe, so zu handeln. (Das gilt übrigens nicht nur für die Selbsthilfegruppe, sondern auch professionelle Mitarbeiter sollen nicht vorrangig sagen, was andere zu tun haben, sondern sie sollen helfen, zu eigenen Entscheidungen zu kommen. So las ich vor ein paar Tagen einen beeindruckenden Nachruf. Darin stand: "Getragen von einer tiefen Menschenliebe wurde er zu einem echten Begleiter seiner Mitmenschen, ..., der auf Fragen keine direkten Antworten gab, sondern versuchte, mögliche Wege und Denkansätze aufzuzeigen.") In der Gruppe geht es um das Hier und Jetzt. Es geht nicht um andere Menschen die draußen stehen, es geht nicht um den Verband oder um die große Politik. Es geht nur um uns, um unser Beispiel, um unser Erleben und um unsere Gemeinsamkeit.

Wichtig ist, dass es einen gemeinsamen, markierten Schluss für das Gruppengespräch gibt. Danach kann möglicherweise noch die Planung weiterer Aktivitäten für die nächsten Wochen, für das Weihnachtsfest, für den Pfarrgemeindebasar, für was auch immer kommen. Zunächst einmal muss die eigene Situation im Mittelpunkt stehen und das Gespräch zu einem befriedigenden Ende gebracht werden.

Freiwillige Arbeit

Noch einmal, wir müssen uns bewusst machen, was alles getan wird. Gedanklich zählt häufig nur das "Helfen", nur das, "was für den Verein getan wird". Das ist nicht niedrigschwellig, sondern es ist hochschwellig, besonders für neue Gäste. Es geht zunächst einmal um kleine Aufgaben, um freiwillige Tätigkeiten, die Menschen das Gefühl geben, dazu zu gehören. Die Arbeit bringt Anerkennung und gibt das Gefühl, für andere wichtig zu sein.

Selbstwertgefühl

Das wissen wir doch alle: dieses Gefühl, dass ich wichtig, etwas wert bin, stärkt das Selbstwertgefühl. Wenn Sie sich einmal einen Eimer vorstellen, vielleicht denken Sie an einen alten, eisernen, verzinkten Eimer, haltbar, schwer, dann fällt es Ihnen leicht sich vorzustellen, was es heißt, das "Selbstwertgefühl ist im Eimer". Es ist nur noch ganz wenig in diesem Eimer vorhanden, der Boden ist kaum bedeckt. Auch deshalb sind alle kleinen Dinge, alle kleinen Schritte für neue Gruppenbesucher wichtig. Um beim Nachhauseweg festzustellen: ich habe mich getraut, ich bin etwas wert, ich bin anderen etwas wert. Die Gruppe hilft mir, mein Selbstwertgefühl zu stärken. Der Eimer füllt sich langsam.

Freiwillige Arbeit

Wann kann ich auf andere zugehen und wann bin ich soweit, aus meinem Eimer, der sich gefüllt hat, etwas für andere herauszunehmen, etwas abzugeben? Allan Luks hat in seinem Buch "Vom Mehrwert des Guten - Wenn Helfen zur heilenden Kraft wird" beschrieben, dass freiwillige Arbeit, die ich für andere tue, auch für mich selbst hilfreich ist. Er liefert in seinem Buch den wissenschaftlichen Beweis dafür, was alle in Selbsthilfegruppen und in der Hilfe für Andere erlebt haben: Helfen ist ein Weg zu einem erfüllteren und gesünderen Leben. Luks stellt fest: "Wer anderen hilft, wer von sich selbst etwas gibt, aktiviert eine positive Kraft - auch für sich selbst". Mir wird das immer besonders klar an dem von ihm geschilderten Beispiel vom Altersheim. Eine Frau berichtet, dass sie es sich nach einem anstrengenden Arbeitstag kaum mehr vorstellen konnte, den freiwillig übernommenen Dienst, jeden Mittwoch um 17.00 Uhr, im Altersheim anzutreten. Sie hat sich - freiwillig - verpflichtet, alten Menschen beim Übergang vom Tag in die Nacht zu helfen. Und doch, so beschreibt sie ihre Erfahrung, fühlt sie sich jedes Mal, wenn sie von diesem Dienst nach Hause kommt, erfrischt. Alle Belastung des Tages ist von ihr abgefallen in dem Bewusstsein, anderen Menschen eine Hilfe gewesen zu sein.

Wenn wir dieses Beispiel auf die Gruppe übertragen, so haben das alle von Ihnen doch schon erlebt. Schon wieder ist Donnerstag, schon wieder ist Gruppe. Es gibt etwas Interessantes im Fernsehen, es gibt ein Angebot in der Volkshochschule, es gibt viele Dinge, die ich schon immer tun wollte und für die eigentlich nur dieser Donnerstag Abend infrage kommt. Und dennoch gehe ich in die Gruppe. Wenn ich nach Hause komme, weiß ich, es war wichtig. Es war wichtig für andere, dass ich da war. Es war aber auch wichtig für mich, es war ein sinnvoller Abend. Zwei bis sechs Stunden pro Woche konkreter freiwilliger Arbeit mit Menschen - so Luks - aktivieren die positive Kraft, geben Motivation, geben Lust anderen zu helfen. Aber es muss eine überschaubare Tätigkeit sein. Es muss eine Arbeit mit Menschen sein, denn nur diese gibt die eingesetzte Kraft durch Begegnung zurück.

Verbandsarbeit

Nun gibt es natürlich Arbeit im Rahmen des Verbande bzw. des Verbundes zu tun. Auch diese Arbeit muss getan werden. Hier geht es dann um "Ämter", um ehrenamtliche Tätigkeit. Diese Arbeit erfrischt in der Regel nicht, sondern sie macht müde. Deshalb bin ich überzeugt davon, dass die Verantwortung für und in Gruppen wechseln muss. Dass die Mitarbeit im Verein als Vorsitzender, als Stellvertreter, als Kassenwart, es gibt so viele Positionen, wechseln muss. Es ist eine unerträgliche Vorstellung, dass jemand ein Jahrzehnt oder mehr Verantwortung für eine Gruppe trägt. Das kann für die Gruppe nicht gut sein und es kann für den, der das tut, schon lange nicht gut sein.

Bestandsaufnahme

Was können wir in der Sucht-Selbsthilfe, in den Sucht-Selbsthilfegruppen, heute wahrnehmen?

Und manchmal drängt sich mir das Bild vom Eichhörnchenkäfig in unserem Heimattierpark auf. Das Eichhörnchen läuft und läuft und bewegt das Laufrad. Es wird gewirbelt, aber es verändert sich nichts.

In welche Richtung sollen wir unsere Kraft lenken?

Die Deklaration des Jahres 2001 als "Jahr der Freiwilligen" hat mich dazu bewegt, über die freiwillige, ehrenamtliche Arbeit im Bereich der Sucht-Selbsthilfe und der Suchtkrankenhilfe insgesamt nachzudenken. Ich möchte dies in wenigen Punkten - und sicher nicht abschließend - zusammenfassen. Dabei gibt es immer noch mehr offene Fragen als Antworten.

In der Sucht-Selbsthilfe geht es letztendlich darum, den Weg aus der Sucht gemeinsam mit Freunden zu gehen. Es geht um die Auf- und Übernahme der Erfahrung, dass Abstinenz vom Suchtmittel frei macht. Das Erlebnis dieser wiedergewonnenen Freiheit und die Erlebnisse auf dem Weg dorthin sind die Basis für das freiwillige Engagement und für die Übernahme von Ehrenämtern.

Aber auch das darf nicht als zwangsläufig erwartet werden. ("Wir haben Dir geholfen, jetzt musst Du bei uns bleiben und auch helfen.") Hilfe ist kein Tauschgeschäft. Der Begriff der Freiwilligkeit muss ernst genommen werden. Wenn jemand das Gefühl hat, dass für ihn jetzt andere Dinge wichtig sind, dann muss die Gruppe, dann müssen wir ihn in Freiheit entlassen.

Im Mittelpunkt der Arbeit der Suchtkrankenhilfe steht die Integration (bei jungen Menschen) bzw. die Re-Integration. Re-Integration kann ebenfalls bedeuten, den in der Gruppe begonnenen Weg mit anderen Menschen, in anderen Zusammenhängen, weiterzugehen. Die Mitarbeit in der Gruppe, im Umfeld der Gruppe und im Verband muss zu einem Ein- und Ausatmen, zu einem Geben und Nehmen führen.

Ein Bild zum Schluss

Lassen Sie uns zum Schluss noch einmal auf den Anfang des Gruppenabends schauen. Was passiert bei der Begrüßung? Wir geben uns die Hand. Wir spüren den Druck der Hände. Wir merken, ob sie trocken sind oder feucht vom Schweiß. Wir spüren Nähe oder Distanz. Aber es sind ja nicht nur die Hände, die sich begegnen. Wir schauen uns an. Treffen sich die Blicke? Wird der Kopf gesenkt, ist in den Augen eine Unruhe zu spüren? Das bewusste Erleben jeder neuen Begegnung zu Beginn des Gruppenabends ist der Stoff, aus dem die Gespräche in der Gruppe wachsen. Es gibt Gelegenheit, die Wahrnehmungen zu äußern: Zunächst das Positive. Das muss gesagt werden! Dann kommen die Fragen - nicht die Feststellungen und Festschreibungen! Hier schließt sich der Kreis: Aufeinander zugehen, miteinander reden, andere und sich selbst erleben. Dazu beizutragen, dass Selbstwertgefühl wachsen kann. Der Eimer wird gefüllt, um später aus der Fülle schenken zu können. Freiwilligenarbeit - unverzichtbar in der Hilfe für Suchtkranke

Rolf Hüllinghorst, Geschäftsführer der Deutschen Hauptstelle gegen die Suchtgefahren (DHS), am 25.10.2001 in der Fachklinik Erlengrund, Salzgitter-Ringelheim bei der Veranstaltung "Handeln Ehrensache - Freiwilligenarbeit unverzichtbar in der Suchtkrankenhilfe"