Landeskrankenhaus Königslutter Station 41

Es sind schon solide Metallplattentüren, die sich hinter mir schließen. Der Schließer fragt nach meinem Namen. „XY. Hier ist mein Einweisungsschein. Ich sollte mich hier heute bis neun Uhr melden. Das sind meine Eltern. Sie haben mich gebracht.“ „Nehmen Sie dort, in dem Zimmer, irgendwo Platz.“ Wir betreten einen leeren Aufenthaltsraum mit einigen nichtssagenden Bildern an der Wand, zweckmäßig eingerichtet. Ich bin mit meinen Eltern und dem von meiner Frau geborgten Koffer allein. Halblaut werden belanglose Informationen ausgetauscht. Meine Eltern lassen sich die Telefonnummer der Station geben. „Werden wir hier noch gebraucht?“ Dann bin ich mit dem Koffer allein.

In den Raum wird eine Frau im Rollstuhl geschoben. Sie ist nur noch Haut und Knochen, ihre Kleidung gut abgetragen. Die ältere Frau, von der sie geschoben wird, sieht eigentlich recht fit aus. Später erfahre ich: Beide sind nicht auf eigenen Wunsch hier. Wir wechseln nur wenige Blicke. Bald bin ich wieder allein. Eine Schwester kommt. Blutdruck messen, Puls, Pusten (0,0 Promille, Kunststück: ich bin seit fünf Tagen trocken). Ich erzähle den ersten von vielen Lebensläufen. Es ist eine Geschichte über den Alkohol und mich. Er ist so offen und ehrlich, wie es mir in diesem Augenblick möglich ist. Er wird später ausführlicher und genauer sein. Mir wird ein „Wochenplan“ der Station ausgehändigt. Volles Programm, nur am Wochenende erscheint auch Freizeit. Später erfahre ich, dass die meisten Posten aus Personalmangel entfallen. Frühsport, Einnahme der Mahlzeiten, Visite, Rest = Langeweile/Gammeln. Eine ältere Frau kommt mit einem Mann schlecht schätzbaren Alters, bestimmt etliche Jahre jünger als ich, und einer Plastiktüte mit Wäsche in den Raum. Der Mann kann sich kaum auf den Beinen halten. Die Frau macht einen resoluten Eindruck, doch ihre Augen suchen nach Hilfe.Der Sohn wird mir noch lange im Gedächtnis bleiben. Er marschierte immer zielstrebig-gerade auf eine offene Tür zu, um im letzten Augenblick die Zarge körpermittig zu nehmen. Auch hier kam die Schwester zum Aufnahmeprotokoll, die gleiche, die auch mich befragt hatte. „Was? Sie haben ihm allen Schnaps weggenommen? Das hätte ihn umbringen können!“ Auch er war mit 0,0 Promille gekommen, sah aber wie ich nur wenige Tage vorher aus. „Ja – sollte ich ihm denn den Vodka noch auf den Tisch stellen?“ Der Rest war Routine.

Ich werde aus dem Zimmer gerufen. „Sie haben Nummer 5. Ich zeige es Ihnen und sehe mir dann ihre Sachen an.“ Ich sehe mich nun erstmals auf der Station um. Um einen etwa quadratischen Block verläuft der Flur. In dem Block sind die Toiletten, Duschen, Badezimmer und Wäschekammern untergebracht. Jenseits des Flures befinden sich die Krankenzimmer, Aufenthaltsräume und der Speisesaal. An einer Stirnseite nach Außen ist die Personalloge. In dem Bereich davor wird Blut abgenommen und der Blutdruck geprüft.

Links und rechts der Loge führen Gänge zu den Sprech- und Untersuchungszimmern der Ärzte. Ein Gang führt zur Stahlplattentür, der andere zur Verbindungstür in eine nebulöse „andere“ Station. Ich habe hier klarzukommen. Zimmer 5 besteht aus einer Fensterfront, zwei glatten Wänden und einer Wand mit Einbauschränken, Waschbecken und der Eingangstür. Das Mobilar besteht aus einem Bett, einem Tisch und einigen Stühlen. Die Wände sind kahl. Im Laufe des Tages werden noch zwei Betten hereingeschoben. Ich packe meinen Koffer auf den Tisch, die Schwester untersucht meine Sachen. Gründlich. Rasiermesser, Nagelknipser, Nähzeug, Mundwasser, Rasierwasser etc. werden mir abgenommen und in einen Umschlag gepackt. Bei einem Kugelschreiber stutzt sie: „Das ist wohl Ihr Spritzbesteck?“ Ich kann sie beruhigen. Als sie gegangen ist, richte ich mich ein. Ich suche Kleiderbügel zusammen und stopfe einige Sachen in den Spind. Den Koffer mit den restlichen Sachen stelle ich hinter das Bett.

Was soll ich tun? Ich gehe in den Aufenthaltsraum für Raucher. Triste Stimmung. Einige Tische und Stühle, zu Sitzgruppen zusammengestellt, ein Fernseher. In einer Ecke steht eine Kaffeetherme mit Tassen, darin der Rest vom Frühstückskaffee, lauwarm, auf dem Wege zum völligen Erkalten. Ich setze mich an einen leeren Tisch und rauche. Ich entdecke die Damen von vorhin. Ein Mann, Typ ganz schlecht bezahlter Zuhälter, führt das große Wort. An einem Tisch in der Ecke sitzen zwei ältere Männer und stopfen Zigaretten auf Vorrat. Ein junger Mann läuft planlos umher und sieht immer wieder aus dem Fenster.

Eine der Schwestern kommt herein und ruft meinen Namen: Puls und Blutdruck. Da ich gerade durchgemessen wurde, halte ich dies für einen Irrtum und weise sie darauf hin. „Wann war das? Wie spät ist es jetzt? Und??“, kommt es bösartig zurück. Ich halte meinen Mund, lasse mich messen und gehe wieder Rauchen.

„Hast du ´mal ´ne Zigarette?“. Der Fenstergucker spricht einmal. Ich gebe ihm eine und rechne gleichzeitig meine Schätze nach: Etwa vierzig Mark Bargeld und eine angebrochene Stange Zigaretten. Weit werde ich damit nicht kommen. Was wohl der Kaffe kostet? „Kannst´e Dir nehmen, schmeckt sowieso beschissen.“ Ich hole mir eine Tasse, es ist egal wie dieses Zeug schmeckt.

Ich werde wieder gerufen. Diesmal soll es die Aufnahmeprüfung sein. Puls, Blutdruck, Reflexe, Fragen zu meinem Lebenslauf. „Hatte Sie einmal Akne?“ „Ja.“ „Durchfall? Erbrechen? Feuchte Hände?“ Meine Brust schwillt: „Ich hatte schon einmal Durchfall und so, zur Zeit aber nicht.“ Ich bin kein Hellseher und ahne nicht, was mir noch an diesem Tage bevorsteht. Die Ärztin doktert weiter an mir herum. Meine Bewegungsproben fallen kläglich aus.

So geht die Zeit bis zum Mittagessen. Ich sehe noch einige Typen, die es auch auf diese Station verschlagen hat: Die Taubstumme, die immer den Flur entlang marschiert, die Person, von der ich glaube sie hat die falsche Toilette benutzt, da sie von „Damen“ kommt, die tablettenabhängigen Damen.

Einige Männer rennen immer mit Plastiktüten durch die Station: Zigarettenstopfutensilien und Pulverkaffee.

Die Geschichte mit dem Kaffe bekomme ich bald spitz: Nach den Mahlzeiten wird die Therme mit dem Restkaffe, Tassen und Kannen mit heißem Wasser im Aufenthaltsraum bereitgestellt. Wer heißen Tee oder Kaffee trinken will, muss sich Teebeutel oder Pulverkaffe selbst besorgen. Besorgen heißt: Jemanden kennen, der einkaufen darf, „draußen“. Ein Privileg, von dem ich so weit entfernt bin, wie vom Pluto. Für mich löst sich das Problem anders. Einer der Patienten ist so zittrig, dass ich ihm Kaffee und Wasser in die Tasse gebe („Nicht so voll!“), dafür erhalte ich etwas Pulverkaffee.

Das Mittagessen ist so, wie viele Krankenhausessen eben sind. Ich habe jedenfalls Appetit und muss nicht zur Nahrungsaufnahme animiert werden. Ich versuche anderen behilflich zu sein. Eigentlich fühle ich mich den meisten Mitpatienten schon wieder überlegen. Meine Beine versagen beim Aufstehen nicht mehr den Dienst, Puls und Blutdruck sind o.k. Den Nachmittag verbringe ich, nur von weiteren Untersuchungen und Befragungen unterbrochen, im Rauchsalon. Ich sitze bei Mitpatienten am Tisch und höre mir Geschichten an.Die Dame aus dem Rollstuhl wurde nach einem Delier hierher gebracht. Sie wollte Eulen vom Fensterbrett verscheuchen und wäre fast aus dem ersten Stock gestürzt. „Haste schon deinen Einweisungsbeschluss gekriegt?“ „Nein, ich bin freiwillig hier.“ „Kommt noch!“ Ein Punkt mehr, der mich von den Anderen hier unterscheidet. Oder? Wieder kommt so etwas wie Stolz in mir auf. Doch ich bekomme auch Angst! Angst vor solch einem Bescheid, den meine Gesprächspartnerin noch an diesem Nachmittag erhält, der sie bis Weihnachten hier halten soll, der sie noch mehr mitnimmt. „Ich will sofort meinen Anwalt sprechen!“ Diesen Satz werde ich hier noch öfter hören.

Die Dame, die am Vormittag den Rollstuhl schob, hat einige Selbstmordgeschichten hinter sich. Nach ihrem letzten „Dann bringe ich mich eben um!“, brachte man sie hierher. Die bösen Verwandten sind an allem schuld. Ich hingegen bin richtig froh, dass mich meine Eltern hierher gebracht haben.

Ein jugendlicher Fußballspieler erzählt, wie er noch eine letzte Flasche Vodka mit dem Taxi bringen lassen wollte. Sie ist nie angekommen. Bei ihm stimmt irgend etwas mit dem Herzrhythmus nicht. Er greift sich während des Gespräches oft an die Brust.

All dies sind Erzählungen, geschönt. Zur ganzen Wahrheit sind wir nicht fähig. Ich nehme alles für bare Münze, sitze allein mit meinen Gefühlen, mit meiner Angst. So geht einiges an Gesprächen an mir vorbei. Es interessiert mich herzlich wenig, welche Sorte Pillen nun wieviel mg Valium enthält. Wie komisch es eine Dame empfindet, dass sie als Tablettensüchtige in die Apotheke geschickt wurde. Ich bin Säufer, noch keine Woche trocken, physisch und psychisch am Ende.

So geht der Nachmittag und der Abend, dafür kommt der Durchfall – und zwar heftig. Von den beiden Herrentoiletten ist eine geschlossen, völlig verstopft, Ansteckungsgefahr. Die andere suche ich nun alle halbe Stunde mindestens einmal auf. Ist sie besetzt, wird es eng für mich. Die anderen unterhalten sich darüber, wer diese Nacht in welchem Zimmer schlafen soll, wer das Privileg des Küchendienstes erhält – ich renne. Doch so wie ich renne, rennt mir die Zeit davon: 23.00h ist Bettruhe angesagt.

Ich bin schon vorher im Bett und hoffe auf Ruhe. Die Geschichte mit meinem Magen-Darm-Trakt geht auch in Ordnung, dafür sorgt der Pfleger für Stress: Krampfprophylaxe.Ich habe nur eine nebulöse Vorstellung davon, wie mich meine Eltern in meiner Wohnung auffanden. Die Angaben auf meinem Krankenblatt basieren wohl aus Mutters Erzählungen, die ja die ganzen Tage, auch bei meinem Arztbesuch, nur erzählte. Ich war gar nicht zu Wort gekommen. Da ich erbrochen hatte, lag die Vermutung, ich hätte auch gekrampft, nicht fern. Real ist meine Angst, was nun kommen soll. Doch ich soll nicht festgeschnallt werden (Das hätte mir bei dem Durchfall auch noch gefehlt), sondern Tabletten schlucken. Nun denn – hinein und gut.

Die Nacht verläuft friedlich. Ich erwache vor dem Wecken. Das ich in einer fremden Umgebung die Augen öffne, bin ich seit Wochen gewöhnt.

Die Duschen sind so früh noch frei. Blick auf den Wochenplan: Frühsport – Frühstück – Visite nur in den Aufnahmeräumen 7 + 8. Das ich nicht zur Visite soll, ist mir ganz recht. Zum einen habe ich aus meiner Zeit der Entgiftung einen Horror davor (Ich war nicht krankenversichert und hatte ständig Angst, aus der Behandlung zu fliegen oder – noch schlimmer - eine gesalzene Rechnung zu bekommen.), andererseits will ich Ruhe zum Eingewöhnen haben.Zum Frühsport erscheinen nur wenige Mitpatienten. Unmittelbar danach wird mir mitgeteilt: „Nach dem Frühstück, Zimmer 8, Visite!“ Mein zaghaftes: “Wieso? Ich dachte...“ wird mit „Sie sind neu! Also Zimmer 8, Visite!“ abgeschmettert. Somit ist meine Stimmung während Frühstücks, Blutabnahme, Blutdruck- und Pulsmessung recht gedrückt. Ich sehe mir die Neuzugänge der vergangenen Nacht an. Während ich schlief, war auf der Station wohl open season gewesen. Es sind durchweg junge Männer, meist unrasiert, mit strähnigen, langen Haaren und Baseball-Kappen auf dem Kopf. Trotz des eisigen Wetters laufen sie in Bermuda-Shorts und T-Shirts herum. „Ich kenne meine Rechte! Ihr Schweine könnt mich hier nicht gegen meinen Willen festhalten! Ich will sofort meinen Anwalt sprechen! Wenn ich hier ´rauskomme, fange ich sofort wieder zu Saufen an!“ tönt es allerorts.Pünktlich betrete ich Zimmer 8. Es ist mit Betten vollgestopft, über ihnen kreist die Video-Überwachungsanlage. Ungepflegte und nur halb bekleidete Männer liegen auf den Betten. Einer von ihnen versucht aufzustehen und an das Fußende des Bettes zu gehen – vergeblich. Der Mann, den ich gestern bei der Aufnahme gesehen habe, ist auch hier. Er erkennt mich nicht. Eine Schwester versucht einen der Mitpatienten zum Duschen zu überreden. „Morgen! Morgen versuche ich es. Ehrlich Schwester!“

Ich sehe alle diese Menschen. Ich bin wach! Ich bin klar! Ich bin einer von Ihnen. Ich bin gelandet!

Doch ich pralle ab. Schon in diesem Augenblick steige ich wieder, nehme ich Abschied von meinen Genossen. Unsere Wege trennen sich. Die Ärzte-Crew betritt das Zimmer. Ein Patient nach dem anderen wird untersucht, erhält kurzen Bescheid über den weiteren Verlauf der Behandlung. Endlich bin auch ich an der Reihe. „Sie kommen auf die Fünfundsechzig!“ Mir ist es recht. Alles erscheint mir besser, als hier zu bleiben.

November 1996. Name und Anschrift des Autors sind der Redaktion bekannt. Im ECHO 2/2005 wurde eine etwas verkürzte Fassung dieses Artikels abgedruckt.
26.09.2005   http://www.suchtkrankenhilfe.net/lkh_41.htm
http://home.arcor.de/hbkost/sucht/lkh_41.htm