Die Vergangenheit, die Geschichte, hat nur einen Wert, wenn sie uns die Augen für die Zukunft öffnet. Eine Zukunft hat nur, wer die Vergangenheit nicht nicht vergißt sondern sie berücksichtigt bei seinen Zukukunftskonzepten. Ohne das Gestern ist der Morgen nicht zu gestalten. Manche, die heute in bequemen Sesseln sitzen mit einem Blick ausschließlich ins Morgen, sollten sich bewußt sein, daß die gestrigen es waren, die ihnen diese Sessel bereit gestellt haben. Wenn Sucht heute als Krankheit verstanden wird, dann ist das kein Verdienst der Mediziner und Therapeuten, auch nicht der Sozialarbeiter, die heute allesamt relativ gut davon leben und schon gar nicht der Politiker, sondern es ist das Ergebnis eines unermüdlichen Kampfes von Diakonie und Caritas, sowie der Betroffenen selbst, die sich für diese Anerkennung eingesetzt haben. Wenn es heute "Therapeuten" sind, die "Patienten" behandeln, dann deswegen, weil es im gestern Christenmenschen gegeben hat, die sich nicht zu fein waren, sich mit "Trinkern" oder "Säufern", wie man sie nannte, einzulassen und an einen Tisch zu setzen.
Wer in diesem Bereich, den ich umfassend mit Seelsorge bezeichnen möchte, spart, zahlt ungleich mehr später drauf. Wenn die therapeutischen Einrichtungen, ambulant wie stationär, dieses spezielle Angebot christlicher Suchtkrankenhilfe vernachlässigen und weder Raum noch Zeit und Kraft dafür zur Verfügung stellen, dann sind sie nicht auf der Höhe leistungsgerechten Standards, sondern versäumen die Mitte, den Kern des therapeutischen Auftrags. Weil das so ist, sind diese Angebote und Leistungen auch kostenwirksam in Therapiekonzepte einzuschreiben. Und wenn die Selbsthilfegruppen, besonders in der Diakonie, diese zentrale Frage menschlichen Daseins in ihren Gruppengesprächen ausklammern, gehen sie an der Mitte der Hilfsmöglichkeiten vorbei.
Selbstverwirklichung ohne diese Verbindlichkeit endet im Single-Dasein, weil sie auf Kosten anderer geschieht. Mit Single meine ich nicht die häufig gebrauchte Umschreibung eines Lebens ohne Partnerschaft und Familie, sondern ich meine Single-Dasein, wie die alte kleine 45er Schallplatte es uns vorführt. So eine Single war eine Platte mit einem Loch in der Mitte, die sich immer um die eigene Achse drehte und nur eine Melodie drauf hatte. Mir begegnen immer wieder Menschen, die so einer Single gleichen: in der Mitte ein Loch, drehen sich nur um sich selbst und haben stets nur eine, die eigene Melodie drauf. Die Einbeziehung des anderen und die Klärung zu Gott bewahrt vor vor einem langweiligen Single-Dasein - und hilft zur wahren Selbstverwirklichung. In diesem Zusammenhang erlaube ich mir daran zu erinnern, daß es Zeiten gegeben hat, in denen Selbstverwirklichung in Hingabe bestand.
Suchtkrankenhilfe vollzieht sich ja nicht im wertfreien Raum, sondern braucht eine wertvolle Grundlage, eine Basis, von der und auf der sich Hilfe aufbaut. Das heißt aber, daß auch der Helfer - ob nun freiwillig und ehrenamtlich oder hauptamtlich gegen Bezahlung sich seiner Grundposition bewußt sein muß. Ich weiß, daß ich mit dieser Bemerkung alle Vorurteile, die überwunden geglaubten ebenso, wie die leidenschaftlich gepflegten, auf dem Tisch habe. Aber es ist allemal besser, sie auf dem Tisch zu haben, als unter den Teppich zu kehren. Denn sie bestimmen weitgehend unser Handeln, jedenfalls mehr als wir wahrhaben mögen und uns bewußt ist.
In den ersten Nachkriegsjahren wohnten wir im dritten Stock eines Mietshauses am Harburger Hafen, in dem eine Eckkneipe war. Zu besonderen Gelegenheiten erlaubte sich mein Vater einen halben Liter Alsterwasser, den eines von uns Kindern holen durfte. Sehr gern stritten wir uns um diese Aufgabe, weil man auf dem Weg einen kräftigen Schluck antrinken konnte mit der Entschuldigung, auf der Treppe gestolpert zu sein. Mit großer Selbstverständlichkeit wurde mir Erstkläßler damals das Biergetränk ausgeschenkt. Heute gibt es ein Jugendschutzgesetz, das den Verkäufer unter Strafe stellt. Welch ein Wandel.
Als mir bewußt wurde, daß mein erlernter Beruf eines Konditors nicht meine Lebensaufgabe sein könnte, wurden die ersten "Freundeskreise aus christlicher Motivation und Tradition" gegründet. Sie waren angebunden an die Heilstätten: z.B. Freundeskreis Siloah, die Gruppen der Burgfamilie. Später kamen die Freundeskreise Ringenhof und auch die Freundeskreise der Kurklinik am Hellweg dazu, die sich einmal jährlich im Stuttgarter Raum zu einem Hellweg-Treffen versammelten.
Ein Jahr später - so fand ich in alten Akten - betrug der Pflegesatz der Moorpension 6,85 DM. Dieser Preis war nicht etwa zwischen Leistungsträger und Heilstätte ausgehandelt worden, sondern einseitig von der Anstaltsleitung Freistatt errechnet und festgesetzt worden. 1965 wurde der Satz von 13,50 DM wiederum von der Anstaltsleitung gekündigt und auf 15,20 DM erhöht. Kein Wort von Pflegesatzverhandlungen, Kostennachweis oder ähnlichem. Man stelle sich das heute vor. Allerdings muß man einräumen, daß in jenen Jahren die Anzahl der Mitarbeiter in den Heilstätten deutlich geringer war als die der Patienten. Das ist heute nicht unbedingt überall so und nicht immer ein Segen. Auch hier welch ein Wandel!
Ende der 60er Jahre erlebte ich Sucht aus dem Blickwinkel des Leiters eines Kinderheims mit "Sozialwaisen", wie damals Kinder aus zerrütteten Familien genannt wurden. Die Alkoholiker kannte ich als haltlose, willensschwache Säufer meiner Heimkinder und sie gehörten keineswegs zu meinen Freunden und wurden von mir auch nicht als Kranke erlebt. Sie mögen auch daran den Wandel in der Auffassung der Sucht erkennen, auch den Wandel meiner eigenen Überzeugung und Einschätzung.
In den Jahren 1973/74 schlug ich vor, auf die jährlichen Wiedersehenstreffen der Heilstätten zugunsten einer Großveranstaltung in der Westfalenhalle oder anderswo zu verzichten. Ich meinte damals, Sucht müsse heraus aus der Anonymität und hinein in die "Tagesschau". Dieser Vorschlag wurde als Spinnerei eines "jugendlichen Revoluzzers" abgetan. Nicht nur meine älteren Kollegen haben mich ausgebuht, auch die betroffenen Suchtkranken selbst wollten ihre Anonymität gewahrt wissen. Dieser Kongress und etliche ähnliche Veranstaltungen sind so etwas wie Selbsthilfe in der "Tagesschau".
Achten Sie bei der Leitbilddiskussion darauf, daß Ihnen das Bewährte (wir es im Kongreßthema heißt) nicht verloren geht, ohne das können Sie die Zukunft nicht gestalten.
Daß die Teilnahme an diesen Kongreß sowohl zeitlich als auch finanziell ausschließlich zu Lasten der Teilnehmer geht, wie Arbeitssitzungen, Vorstandsarbeit und manches mehr in der Sewlbsthilfe auch, während andere gesellschaftliche Aktivitäten mit Dienstbefreiung und Kostenbeteiligung unterstützt werden, zeigt, daß auf dem Weg zur gesellschaftlichen und politischen Akzeptanz des Krankheitsbegriffes noch etliches zu tun ist.
Die ehrenamtliche Suchtkrankenhilfe, die von den Selbsthilfegruppen geleistet wird, hat einen Anspruch darauf, mindestens so behandelt zu werden, wie andere Mandatsträger in Kommunen und Gesellschaft auch. Die freiwillige Feuerwehr könnte als Vergleich dienen. Kosten, wie Verdienstausfall, Fortbildung u.ä. werden nach Gesetz und Gemeindeordnung übernommen bzw. erstattet. Mir ist beim besten Willen nicht einsichtig, warum die Rettung eines Menschen aus einem brennenden Haus oder verunglücktem Auto anders bewertet wird als die Rettung eines Menschen aus der Abhängigkeit. Ich will hoffen, daß es nicht Vermögenswerte sind, die von der freiwilligen Feuerwehr geschützt werden, die den Ausschlag bei der Finanzierungsregelung gegeben haben.
Wenn ich in Klammern auch von dem berüchtigten Urteil gesprochen habe, dann, um auf zwei Gefahren hinzuweisen. Die eine sehe ich darin, daß Alkoholismus durch den Begriff Krankheit zu einem medizinischen Problem gemacht wird und die irrige Meinung stützen könnte, daß damit auch die Hilfe und Therapie in die Hände von Ärzten gehört. Die Erfahrung zeigt aber, daß die niedergelassenen Ärzte am wenigsten in der Lage sind (möglicherweise auch nicht geeignet), der Suchterkrankung entschieden zu begegnen, obwohl bei ihnen fast alle potentiellen Patienten, natürlich mit anderen Krankheitssymptomen ankommen. Alkoholismus ist in erster Linie eine soziale Erkrankung und erst in zweiter Linie eine medizinische.
Die zweite Gefahr besteht darin, daß auch der Betroffene selbst seine Krankheit so versteht, daß er nun nichts dafür könne und die anderen, zum Beispiel die Therapeuten (sowohl ambulant wie auch stationär), ihn gesund zu machen hätten. Es gibt bei der Sucht - und dies gilt für alle Krankheiten - einen Anteil für den der Patient nichts kann. Ich nenne das die Disposition, und einen zweiten Teil für den er selbst verantwortlich ist. Keinen einzigen Patienten, auch den Abhängigkeitskranken nicht, möchte ich aus der Verantwortung für die Gestaltung seines Lebens entlassen. In diesem Sinne gewinnt der Begriff Selbsthilfe noch eine ganz andere Bedeutung.
Zur erfolgreichen Suchtkrankentherapie gehört die Neuorientierung der Persönlichkeit und die Bearbeitung der Sinn- und Zielfrage menschlichen Lebens. Es reicht eben nicht aus, nur ein Krankheitssymptom zu behandeln. Und Heil und Heilung (im Sinne des Neuen Testaments) sind etwas anderes und gehen weiter und sind umfassender, als die Behandlung einer Krankheit im Sinne der Reichsversicherungsordnung.
Das Geheimnis der Selbsthilfegruppen und ihr Erfolg besteht darin, daß sie sich als Gleiche unter Gleichen verstehen, wo Geben und Nehmen sich die Waage halten. So sind die Altvorderen 1956 angetreten. Verspielen Sie das Erbe nicht. Lassen Sie sich nicht in Solche und Andere einteilen. Damit fängt die Suchtkarriere jeweils an, daß Menschen sich ausgegrenzt fühlen. Luther hat für den barmherzigen Samariter den Ausdrück "Nächster" gewählt und damit auch den unter die Räuber gefallenen zum Nächsten gemacht. Das drückt Partnerschaft und Gleichwertigkeit a us. Oben und Unten, Reiche und Arme hat unser Wirtschaftssystem zum Ziel. Diakonie kennt nur einen Meister; "ihr aber seid alle Brüder", sagt Jesus (Matthäus 23,8). Im übrigen meint Freundschaft etwas anderes und mehr, als nur das zu geben, was der andere rechtzumachen (d.h. zu bezahlen) imstande ist.
Das trifft nicht nur für Reha-Maßnahmen nach Unfällen sondern auch bei Abhängigkeitskranken zu. Und es gilt nicht nur für die professionelle, ambulante und stationäre Suchtkrankenhilfe, sondern auch für die ehrenamtliche Arbeit der Selbsthilfegruppen und -organisationen. In dem Entwurf einer Rahmenvereinbarung für stationäre Hospize waren Ehrenamt und Spenden als fester Bestandteil der Finanzierung enthalten und wurden deshalb vom Diakonischen Werk in der EKD abgelehnt, berichtet das Magazin der evangelisch-freikirchlichen Gemeinden.
Die ehrenamtliche Selbsthilfearbeit rangiert dabei an letzter Stelle. Die Fremdhilfe, die diese Selbsthilfe leistet, ist dabei ein wesentlicher Beitrag zur Menschlichkeit und Gesundheit unserer Gesellschaft. Sie hat deswegen einen Anspruch auf finanzielle Absicherung. Verbale Gratulationen und Beteuerungen reichen nicht aus.
Auch die Therapiekonzeptdiskussion und Erstellung von Hilfeprogrammen dient häufig in erster Liie den wirtschaftlichen Interessen und erst nachrangig den Bedürfnissen der Patienten.
Selbsthilfe ist auch dann noch richtig und sinnvoll, wenn sie unter wirtschaftlichen Aspekten nichts mehr bringt. Proprium, Auftrag, das Eigentliche, orientieren sich nicht am Erfolg, sondern an der Erfüllung des Gebotes der Nächstenliebe.
Da soll Bewährtes erhalten und Zukunft gestaltet werden. Meine Damen und Herren Finanzverantwortliche, rechnen Sie bitte bis zum Ende nach, was ehrenamtliche Arbeit sparen hilft. Die paar Mark, die sie kostet, können Sie dann fast aus der Portokosse zahlen.
Wandel der Selbsthilfe, Bewährtes erhalten, Zukunft gestalten bedeutet, nicht von anderen die Lösung unserer Probleme zu erwarten. Selbsthilfe packt das machbare an, zerlegt große, unüberwindliche Hindernisse in überschaubare und faßbare Probleme und geht sie mit Eigenmitteln an.
Kurt H. Möller
Anmerkung: Kurt H. Möller war viele Jahre Leiter der Bethel' schen Fachklinik "Moorpension" in Freistatt. Das Referat "Selbsthilfe im Wandel" hat er im Mai 1998 auf dem Bundeskongress der Freundeskreise in Neumarkt gehalten. Mit freundlicher Genehmigung von Herrn Möller durfte das Referat im ECHO 1/99 abgedruckt werden.
31.01.2001 | http://www.suchtkrankenhilfe.net/moeller.htm
http://home.t-online.de/home/hbkost/sucht/moeller.htm |