Teuflische Erinnerungen

Forscher lüften das Geheimnis der Abhängigkeit und entwickeln erste Anti-Drogen-Pillen

Einen letzten Schuss setzte sich Frank für die Wissenschaft - mehr als 15 Jahre lang war Heroin sein Leben gewesen. Die Sucht hatte ihn den Job gekostet, die Freundin verjagt, seine Gesundheit zerstört. Jetzt wollte er Schluss machen damit. Zum Entzug ließ er sich in ein Londoner Hospital einweisen. Dort aber machten die Ärzte dem 33-jährigen Engländer ein seltsames Angebot: Ob sie ihn noch dreimal unter Heroin setzen dürften? Frank, die Entzugsqualen vor Augen, willigte ein. Kopf voran schoben sie ihn in den Computertomographen, eine Röhre so eng wie ein Sarg. Auf ihren Bildschirmen erkannten die Ärzte, welche Teile von Franks Gehirn gerade aktiv waren. "Wir haben Süchtigen in die Köpfe geschaut", sagt Ray Dolan vom Institute of Neurology des University College of London, der die Untersuchungen leitete. "Wir haben verfolgt, was beim Drogenkonsum in den Gehirnen geschieht."

Strukturen tief im Schädelinneren traten in Aktion, die Mandelkern und Hippokampus heißen. Diese Regionen legen Erinnerungen an. So wurde das Wohlgefühl in Franks Gehirn eingebrannt. "Teuflische Erinnerungen," sagt Dolan, "denn sie entfachen den Wunsch nach der Droge immer wieder neu." Mit solchen Experimenten haben Wissenschaftler in den vergangenen Jahren ein neues Verständnis davon erlangt, wie Menschen in die Fänge der Sucht geraten. "Ob Alkohol, Nikotin oder Heroin - alle Süchte entstehen im Kopf nach demselben Muster", erklärt Walter Zieglgänsberger vom Münchner Max-Planck-Institut für Psychiatrie. "Genau dieses Prinzip erschließt sich uns jetzt."

"Wir stehen an einer Zeitenwende in der Suchtbehandlung", glaubt Michael Soyka von der Psychiatrischen Klinik der Universität München. Psychologen haben die Erkenntnisse der Hirnforscher in Verhaltenstherapien umgesetzt. Vor allem aber sind die ersten Medikamente gegen die Alkohol- und Nikotinsucht auf dem Markt. Und allein gegen Kokainabhängkeit werden derzeit rund 60 neue Substanzen erprobt.

Mehrere Millionen Menschen in Deutschland sind nikotinsüchtig. Jahr für Jahr sterben durch das Rauchen mehr als 100 000 Menschen. 40 000 Leben fordert der Alkohol, den rund zwei Millionen Abhängige in sich hineinschütten. Den Schaden durch zu viel Bier und Schnaps schätzt das Gesundheitsministerium auf 40 Milliarden Mark jährlich. Nur weniger als ein Prozent der Süchtigen, 150 000 Menschen, sind abhängig von Heroin oder Kokain.

Was bringt Menschen dazu, sich bewusst zugrunde zu richten? "Sucht ist ein Unfall auf der Suche nach Glück", erklärt Zieglgänsberger. Wie die Krieger im Trojanischen Pferd schleichen sich Nikotin, Alkohol oder Kokain in Hirnstrukturen ein, die für angenehme Gefühle zuständig sind: Die Droge kapert das Gehirn (siehe Grafik).

Für den Genuss stellt sich das Hirn seine eigenen Stoffe her: Opiate, natürliche Substanzen, ähnlich dem Opium. Werden diese ausgeschüttet, zum Beispiel beim Sex, erlebt man rauschhaftes Wohlgefühl. Drogen wie Heroin gleichen den körpereigenen Opiaten. Deswegen lösen auch sie Euphorie aus. Erhält das Gehirn zu viele Opiatduschen, stumpft es ab.

Die außer Kontrolle geratene Jagd nach Genuss kann nicht der einzige Schlüssel zur Sucht sein. Wie wäre es sonst zu erklären, dass einmal Abhängige auch nach Jahrzehnten noch rückfällig werden? Die Anpassung des Hirns an die Droge schwindet schon nach wenigen Wochen - im Lauf des oft peinvollen körperlichen Entzugs.

Die Lösung dieses Rätsels liegt im Hirnsystem für die Lust. Wenn eine Belohnung winkt, wird im Kopf der Botenstoff Dopamin ausgeschüttet. Zugleich wird das Gedächtnis in Bereitschaft versetzt - das Gehirn soll sich gezielt Situationen einprägen, die Angenehmes versprechen. Später wird es ähnlich aussichtsreiche Verhältnisse erkennen und den Körper automatisch dorthin lenken. Dopamin ist ein Hormon des Lernens.

Dieser Mechanismus ist überaus mächtig. Als Neurologen Ratten Drähte ins Hirn pflanzten und ihnen die Möglichkeit gaben, sich per Hebeldruck eine Extradosis Dopamin zu verschaffen, taten die Tiere sehr bald nichts anderes mehr. Sie vergaßen Sex, Essen, Trinken und rannten stattdessen wieder und wieder zum Hebel. So starben die Ratten schließlich für ein bisschen Glück.

Drogen wirken genauso wie dieser fatale Hebel. Alle gängigen Suchtmittel verschaffen dem Gehirn einen Dopaminstoß – darin liegt die wichtigste Erkenntnis der Suchtforschung. Unter dem Einfluss von Nikotin, Kokain, Alkohol oder Partydrogen steigt der Dopaminspiegel auf das Vielfache. Auf diese Weise werden Anblick der Droge und Verlangen danach fast unauslöschlich miteinander verknüpft: Ein süchtiges Hirn, das eine Flasche, eine Zigarette oder weißes Pulver erblickt, erteilt sofort das Kommando "konsumieren".

Wer einmal in diesen Teufelskreis gerät, sieht sich darin gefangen - sogar dann, wenn er die Droge inzwischen abscheulich findet. Kaum jemand hat diese rasende Gier so eindringlich beschrieben wie der Liedermacher Konstantin Wecker, der kokainsüchtig war: "Welches Entsetzen, wenn nur noch ein paar Gramm im Haus waren. Wände wurden aufgeschlagen, hinter denen ich Depots vermutete, Möbel zerfetzt in der Hoffnung, Reste zu finden - wie unwürdig, wie sehr ekelte ich mich vor mir selbst."

Die Dressur auf die Droge wird ein Süchtiger meist sein Leben lang nicht mehr los - ebenso wenig, wie man seine Muttersprache vergisst. Denn die Suchterfahrung verändert für immer die Art, wie die Nervenzellen im Gehirn funktionieren: Bevorzugt werden im Kopf nun Substanzen hergestellt, die das Hirn für Drogenreize besonders empfänglich machen. Selbst an einzelnen Hirnzellen können Neurobiologen in Tierversuchen noch erkennen, welche Ratten sie lange zuvor an Alkohol gewöhnt hatten.

"In welch enormem Maß Drogen das Gehirn verändern, hat sogar uns Wissenschaftler überrascht", sagt Alan Leshner, Direktor des US-Suchtforschungszentrums National Institute on Drug Abuse. "Wie die meisten Menschen dachte auch ich, Abhängigkeit sei einfach die Folge von zu viel Alkohol oder Nikotin. Leider ist das ein Irrtum. Sucht ist meist keine Frage des Willens. Sucht ist eine chronische Hirnkrankheit."

Einstieg in den Abstieg. Kaum je treibt der Wunsch nach Genuss allein Menschen in die Abhängigkeit. Mühsam muss sich der Körper erst an den Umgang mit den fremden Substanzen gewöhnen. Und fast immer ist das Motiv, vor Problemen auszuweichen. "Wer Sorgen hat, hat auch Likör" schrieb Wilhelm Busch; andersherum stimmt es genauso.

Alkohol beruhigt und löst Ängste. Kokain wirkt kurzzeitig wie ein Turbolader für Einfallsreichtum und Witz. Damit hilft er all denen, die sich in Gesellschaft zu dumm und zu langweilig vorkommen. So erinnert sich auch Elton John an seine ersten Kokainerfahrungen: "Auf einmal konnte ich reden, stundenlang. "Nikotin hilft, Langeweile und Stress zu ertragen, regt an und beruhigt zugleich.

"Aber beileibe nicht jeder, der Drogen nimmt, wird süchtig", sagt der amerikanische Suchtmediziner Charles O'Brien aus Philadelphia. "Ungefähr zehn Prozent aller Alkoholkonsumenten und 16 Prozent derer, die Kokain nehmen, schlittern in die Abhängigkeit. Bei Nikotin liegt diese Zahl doppelt so hoch, bei mehr als 30 Prozent. Zigaretten sind das wirkungsvollste Suchtmittel überhaupt."

Wer wird süchtig? Alle Arten von Stress erhöhen das Risiko, auf der Suche nach etwas Entspannung dem Alkohol, dem Tabak oder dem Heroin zu verfallen. Doch beileibe nicht jeder, der eine schwierige Situation bewältigen muss, wird süchtig. Wie sehr Stress das Suchtrisiko erhöht, wird durch die Gene beeinflusst. Eine wichtige Rolle spielt dabei eine bestimmte Andockstelle für den Belohnungsbotenstoff Dopamin im Gehirn, der so genannte D2-Rezeptor. "Wer auf Grund seiner genetischen Veranlagung zu wenig D2-Rezeptoren hat, ist besonders gefährdet", hat die amerikanische Suchtforscherin Nora Volkow herausgefunden, eine Urenkelin des russischen Revolutionärs Trotzki, die heute führend ist im Durchleuchten süchtiger Hirne. "Fatal dabei ist, dass eine durchlebte Sucht die Zahl der D2-Rezeptoren noch weiter vermindert, und zwar auf Jahre."

Wer von einer Droge abhängig ist oder war, lebt mit einer hohen Wahrscheinlichkeit, auch noch einer zweiten Sucht zu erliegen, weil alle Rauschmittel dieselben Hirnschaltungen ansprechen. Im Tierversuch verfallen morphiumabhängige Ratten nach dem Entzug dem Alkohol. Fast jeder Heroinsüchtige ist auch von Zigaretten oder Alkohol abhängig: Sucht erfasst den Menschen total.

Die Bestandsaufnahme der Hirnforscher ist düster - und gibt dennoch den Süchtigen Hoffnung. Denn seinen Feind zu kennen ist der erste Schritt, um ihn zu besiegen. Den körperlichen Entzug auszuhalten ist dabei noch die leichteste Übung. Das Frieren und Schütteln, die Übelkeit und die Wahnbilder lassen sich mit Medikamenten mildern und gehen nach ein paar Wochen vorbei. Viel schwieriger ist, immer wieder sein Verlangen nach der Droge, das ins Hirn eingebrannt ist, in Schach zu halten.

Pillen gegen die Sucht. An diesem Punkt setzen die so genannten Anti-Craving-Medikamente an. Sie dämpfen den Reflex, wieder zur Flasche oder zur Zigarette zu greifen. Campral, auch "die Pille gegen das Saufen" genannt, hilft, an die Flasche gar nicht erst zu denken. Zyban, seit vergangenem Sommer in den Apotheken, entschärft die Gier nach der Zigarette. Naltrexon, das derzeit vor allem in den USA verschrieben wird, legt sich wie ein Keuschheitsgürtel um die Andockstellen für Opiate im Gehirn. Dadurch macht es Heroin wirkungslos. Im Moment entwickeln amerikanische Pharmakologen eine Depotspritze mit diesem Mittel, deren Effekt mehr als zwei Monate vorhalten soll.

Die neuen Medikamente wirken keine Wunder, und sie können lästige Nebenwirkungen haben. Campral ruft häufig Kopfschmerzen hervor, Zyban Schlafstörungen, Naltrexon Lustlosigkeit. Aber mit Campral blieb in Versuchen mehr als die Hälfte aller Alkoholpatienten länger als drei Monate trocken. Ohne das Mittel hält nur ein Viertel der Abhängigen durch. Bei den anderen beiden Medikamenten liegen die Erfolgszahlen ähnlich hoch. Den festen Willen, sich von der Droge zu lösen, muss der Patient allerdings mitbringen. "Mein erster Versuch mit Campral schlug fehl", sagt Pierre, ein in Paris lebender Künstler, der gegen den Alkohol kämpfte. "Ich war einfach noch nicht bereit dafür."

Die Anti-Craving-Medikamente dienen als Krücke für eine Übergangszeit. Solange die Patienten die Arznei schlucken, bleibt der Drang nach der Droge ausgeschaltet. Das verschafft eine Atempause, um sein Leben ohne Zigarette oder Flasche neu zu ordnen - eine Aufgabe, die zu bewältigen oft Monate in Anspruch nimmt. Denn wer süchtig war, muss lernen, über die dämonischen Verknüpfungen in seinem Kopf Oberhand zu gewinnen. Er hat sich daran zu gewöhnen, dass die Fahrt von der Arbeit nach Hause nicht Zigarette, Fernsehen und Cognac bedeutet.

"Überall hinterlässt die Sucht ihre Spuren der Verwüstung", beschreibt Steven Hyman. Er hat viele Jahre die Belohnungsschaltkreise im Gehirn erforscht und leitet heute das National Institute of Mental Health, das amerikanische Forschungszentrum für psychische Krankheiten. "Am besten wäre es also, nach dem Entzug ein ganz neues Leben zu beginnen. Das geht leider nicht. Aber auf jeden Fall sollten ehemals Abhängige, so weit es geht, Situationen meiden, in denen sie einst ihre Droge einnahmen - also um die alte Stammkneipe oder die Freunde, mit denen sie fixten, einen weiten Bogen machen."

Wer süchtig war, ist gut beraten, wenn er Stress klein hält, sich statt mit Drogen mit aufregenden Sportarten und erlesenem Essen verwöhnt - und sich vor allem immer wieder die Auslöser im Alltag bewusst macht, bei denen er früher zur Zigarette oder zur Flasche griff. Weil sich all dies in der Gruppe leichter lernt, sind Verhaltenstherapien oft eine große Hilfe. Viele Psychologen allerdings wehren sich noch immer gegen den Einsatz von Medikamenten - zum Nachteil ihrer Klienten. Oft beharren sie auf Herumwühlen in der Vergangenheit, das mehr schaden als nützen kann, weil es gefährlichen Stress erzeugt. Schon Sigmund Freud, der so viel rauchte, dass er an Kehlkopfkrebs starb, wusste es besser. Als eine Kritikerin ihn auf die phallische Bedeutung seiner Stumpen hinwies, antwortete er: "Manchmal, Madame, ist eine Zigarre wirklich nur eine Zigarre."

Stefan Klein im FOCUS 20/2001

Anmerkung der ECHO-Redaktion: Stefan Klein, 1965 geboren, studierte Physik und Philosophie und promovierte über Biophysik. Er schrieb Beiträge für die "Süddeutsche Zeitung" und die "Frankfurter Allgemeine Zeitung". Von 1996 bis 1999 war er Wissenschaftsredakteur beim "Spiegel", von 1999 bis 2000 Redakteur bei "GEO". 1998 erhielt er den Georg-von-Holtzbrink-Preis für Wissenschaftsjournalismus. Er ist Autor der Bücher "Die Tagebücher der Schöpfung - Vom Urknall zum geklonten Menschen" und "die Glücksformel". Das letztgenannte Buch stand 2002 lange Zeit auf den den Bestsellerlisten (Sachbücher). Es befasst sich mit Gehirnforschung, seelischen Erkrankungen und auch mit Sucht. Es ist mittlerweile auch als Taschenbuch erhältlich.